Bislang hatte ich immer nur kleinere Tagestouren oder Bergwanderungen unternommen. Erfahrung mit Fernwandern? Fehlanzeige! Auf zu neuen Ufern, habe ich mir gedacht und überlegt: Wo soll es eigentlich hingehen? Nach etwas hin und her war das Ziel dann schnell gefunden—Sylt. Die Sansibar, um genau zu sein. Dort könnte ich mich dann mit einem Kaltgetränk belohnen. Startpunkt war zuhause in Duisburg, einfach, gut und praktisch.
Mit zwei Testwanderungen, die jeweils einer geplanten Tagesetappe glichen, habe ich meinen Warmup gestartet. Am ersten April ging es dann los. Maximal 20 Tage hatte ich also für die insgesamt 720 Kilometer Zeit. Und die wollte ich auch nicht überschreiten, da meine Frau am geplanten letzten Tag der Wanderung Geburtstag hatte. Sollte ich diesen verpassen, könnte ich gleich bis nach Schweden durchwandern. Jag ville definitivt inte det. Wenn das kein Ansporn ist!
Auf den ersten Kilometern wurde noch an dem einen oder anderen Riemen des Rucksacks rumgezappelt, auch die Schuhe wurden mehrmal ge- und entschnürt, bis ich das Gefühl hatte, mit meinem Equipment eine Einheit zu bilden. Ca. 35 Kilometer waren pro Tag geplant, abends wurde dann nach möglichen Übernachtungsplätzen gesucht. Zu Fuß und eins mit der Natur, Menschen treffen und Neues entdecken, so hatte ich es mir vorgenommen.
Zu Beginn war es immer ein etwas seltsames Gefühl, fremde Menschen nach einem Stück Wiese für mein Zelt zu fragen. Von Mal zu Mal jedoch wurde es leichter, nicht zuletzt, weil die Hilfsbereitschaft oft sehr groß war; mir wurden sogar Essen und Getränke angeboten.
Der eigentliche Plan war, den Weg alleine zu gehen. Nach dem dritten Tag jedoch schlichen sich schon der ein oder andere, eher fiese, Begleiter ein. Eigentlich hatte ich alles getan, das zu verhindern, konnte den unliebsamen Besuch nun jedoch nicht mehr abschütteln. Ein paar Kilometer lief ich noch in liebevoller Ignoranz; am Morgen des vierten Tages ließ sich eine Konfrontation jedoch nicht mehr vermeiden: Ich hatte an beiden Füßen eine Blase. Schwierig, wenn doch noch so einige Kilometer vor einem liegen. So recht verstehen konnte ich es auch nicht, die Schuhe hatte ich zuvor eingelaufen, alle möglichen Sicherheits- und Komfortvorkehrungen getroffen—von A bis B wie Blasenpflaster.
Die Dauerbelastung auf so einer Tour macht es wohl leider unvermeidbar. Jegliche Vorbereitung hatte mir nur ein kleines bisschen blasenfreie Zeit beschert. Irgendwann kommen sie einfach, ob man will oder nicht. Im Laufe der Zeit gewöhnt man sich allerdings daran und baut kleine Umwege in den abendlichen und morgendlichen Ablauf mit ein. Zwischendurch immer wieder mal ein kurzer Stopp in der Drogerie oder Apotheke. Überall stößt man auf nette Beratung—und sammelt mehr Wissen über Pflaster, Produkte und Größen, als man es sich je hätte ausmalen können.
Nachdem ich mich nun mit meinen ständigen Begleitern arrangiert hatte, konnte ich mich wieder auf die Strecke und die schönen Dinge links und rechts des Weges einlassen.
Vorbei an Feldern und Windkrafträdern ging es in Richtung Münsterland. Am Abend war ich kurz vor Dorsten und mir blieb nichts anderes übrig, als im Wald zu übernachten. Ich fand eine kleine Lichtung und schlug mein Zelt auf. Etwas zu essen hatte ich mir noch beim Metzger und Bäcker besorgt, und dazu gab es einen heißen Tee aus eigener Herstellung. Ich legte mich an diesem vermeintlich ruhigen Plätzchen zur Ruhe—aber die Ruhe trog.
Als Wanderer fehlen einem eben manchmal die Hinweisschilder, die den Autofahrer auf Gefahren aufmerksam machen—wie zum Beispiel auf den Wildwechsel, in dessen Mitte ich mein Zelt aufgeschlagen hatte. Nichts mit angenehmer Atmosphäre im Wald. Es ging zu wie auf einer Autobahn. Geraschel hier, Geraschel da, und mittendrin allerlei Tierlaute. Zugegeben, es war Natur pur, aber könnten sie in der Nacht nicht auch ein bisschen Ruhe geben? Zimmerlautstärke war das nicht.
Völlig gerädert ging es am nächsten Tag weiter. Zu meinen ständigen Begleitern gesellte sich nun auch ein Geruch, Düngezeit. Mal stärker, mal schwächer. Die Gülle wurde fleißig auf den Feldern ausgebracht. Wie heißt es so schön, “man gewöhnt sich an alles”, und so war es dann auch nach weiteren zwei Tagen. Genauso wie ich mich an die tägliche Blasenprozedur gewöhnt hatte und tagsüber die Schmerzen versucht habe auszublenden. Aufgeben? Keine Option.
Immer wieder kam ich zwischendurch in kleine Ortschaften und der Kontakt zu einigen Bewohnern blieb nicht aus. Entweder sprachen sie mich an, wohin denn die Reise ginge, oder ich fragte nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Es scheint eben manchmal ein bisschen exotisch, einfach mit dem Rucksack in Deutschland auf Tour zu gehen.
Beim Kloster Gerleve durfte ich auf einer Wiese übernachten. Es war mit die kälteste Nacht auf meiner Tour und durch die Hanglage fiel die Kälte förmlich in mein Zelt ein, sobald ich den Eingang öffnete. Leider war es so kalt, dass mir sogar mein Trangia-Sturmkocher den Dienst verweigerte. Schließlich wurde es aber doch noch was mit der heißen Brühe zum Abend. Am Morgen durfte ich dann im Kloster frühstücken. Leider nicht so romantisch, wie man es sich vorstellt, denn es fand in einem Frühstücksraum für Seminarteilnehmer oder Schulklassen statt, die dort übernachten. Aber zum Ausgleich gab es selbstgemachte Marmelade. Es sind diese Kleinigkeiten, mit denen ich mich zwischenzeitlich gern zufrieden gab und die für etwas Motivation sorgten und mir durch den Tag halfen.
Die salzige Luft der Nordsee konnte ich zwar bis jetzt noch nicht riechen, aber ich kam ihr immer näher. Mittlerweile hatte ich meinen Rhythmus gefunden und saugte immer mehr von meiner Umgebung auf. Ein bisschen musste ich zwar noch auf den richtigen Weg achten, aber mein Garmin GPSmap 62S piepte kurz in der Nähe des nächsten Wegpunktes. Man kann nicht alles planen, und das wollte ich auch nicht. Wenn es also einen schöneren Weg gab, dann bin ich ihn gegangen.
Es gab allerdings auch Wege, die bedurften keiner besonderen Navigation. Parallel zum Dortmund-Ems-Kanal konnte man ohne großes Nachdenken Strecke machen. Auf der einen Seite der Kanal, auf der anderen Seite Wald und Wiesen, und vor mir gut 15 Kilometer nahezu schnurgerader Weg. Für die Augen gab es leider wenig zu sehen, weil sich selbst Schiffe rar machten. An diesem Tag habe ich dann meinen Tagesschnitt kräftig überboten. Klar, es gab ja auch wenig Ablenkung. Fast 50 Kilometer waren es heute.
Im Laufe des Tages versuchte ich, schon einmal einen Übernachtungsplatz zu organisieren. Diesmal per Telefon, beim Kanucamp in Lingen. Gegen 23 Uhr kam ich dort an und konnte noch duschen; auch der Getränkeschrank war voll bestückt.
Irgendwie war es aber trotzdem auf dem Gelände anfangs unheimlich. Was mir keiner gesagt hatte, war, dass es dort auch Hütten zum Übernachten gab. Um den Naturcharakter so richtig zu unterstreichen, waren auch jede Menge wilder Tiere, modelliert aus Stroh, aufgestellt. Ich baute also mein Zelt auf, hörte ein Geräusch und dreht mich um. Auf einmal stand dort ein gut zwei Meter großer Bär aus Stroh hinter mir—im ersten Moment fuhr mir der Schreck in die Knochen. Am Morgen danach konnte ich mit dem Betreiber bei einem Kaffee darüber herzlich lachen.
Ein Drittel des Weges lag mittlerweile hinter mir und ich ging stramm auf das Bergfest zu. Das hatte ich dann bei meinen Freunden Detlef und Monika. Detlef holte mich kurzer Hand mit dem Auto ab, aber am nächsten Tag ließ ich mich dort auch wieder absetzen. Schließlich wollte ich jeden Kilometer selbst laufen, Ehrensache.
Es gab ein leckeres Abendessen und diesmal als Belohnung eine Nacht in einem richtigen Bett. Auch meine Sachen konnte ich noch einmal durchwaschen, und so war ich wieder gut gerüstet für die zweite Hälfte. Ich hatte ihm auch im Vorfeld meine vorbereiteten Müsli-Rationen geschickt, damit ich nicht alles den ganzen Weg tragen musste. Think smarter, not harder.
Jetzt kam ich der Nordsee schon wesentlich näher. Mit zunehmender Meereshöhe schlug dann leider auch das Wetter um, es wurde allmählich rauer. Der erste Regen setze ein und immer stärker wehte der Wind. Ein typisches Frühlingswetter eben, von allem etwas, wenngleich auch manchmal etwas zu viel.
Mein Weg führte nun auf dem ersten Deich entlang. Bis zum Horizont nur Wasser. Ab hier kamen zu meinen persönlichen ständigen Begleitern auch noch wollige hinzu. Deichschafe in Hülle und Fülle, und da Osterzeit war, mit ihrem Nachwuchs. Schon anstrengend, immer in Schieflage stehen, um zu grasen.
Der Wind brachte den Regen zeitweise waagerecht, aber wie sagt eine norddeutsche Weisheit, “Sturm ist erst, wenn die Schafe keine Locken mehr haben.”
In diesem Sinne ging Wanderung also weiter. Unermüdlich dem Wetter trotzend, betrieb ich zwischendurch Schafstudien. Wie verhalten sie sich, wenn ich mich ihnen nähere? Die einen kamen direkt zu mir, die anderen hielten respektvoll Abstand. Einige rannten auch einfach weg. Gut, das nahm ich erst einmal nicht persönlich.
In der Zwischenzeit erfuhr ich, das die Personenfähre zwischen Cuxhaven und Brunsbüttel eingestellt worden sei. Also nahm ich den Zug in Richtung Glückstadt und dann die dortige Fähre und den Bus nach Brunsbüttel. Dort konnte ich meinen geplanten Weg fortsetzen. Hatte ich am Vortag doch noch acht Stunden im strömenden Regen und teilweise auf tiefen Reitwegen zurückgelegt fühlte sich dieser Tag nun fast wie eine Belohnung an.
Ab jetzt gab es keine großen Hindernisse oder Flüsse mehr, die ich hätte überwinden müssen. Leider blieb die Witterung schlecht, aber Aufgeben war immer noch keine Option, und ich wollte auch weiterhin im Zelt schlafen, egal was kommt.
Es war schon recht spannend, wie man sich selbst auf so einer Wandertour verändert und fremden Menschen gegenüber offener wird. Die Skepsis schwindet und man lässt einfach mehr an sich heran. Es fiel mir leichter, auch auf Unbekannte zuzugehen, und ich war positiv überrascht, mit welcher Herzlichkeit ich aufgenommen wurde.
Am Beeindruckendsten empfand ich den drittletzten Tag. Es war so wieder ein Tag, an dem man nicht einmal einen Hund vor die Tür jagen würde. Der Himmel wurde immer schwärzer und es gab eine Sturm- und Gewitterwarnung. An einer kleinen Gaststätte sah ich das Schild “Zimmer frei”. Ok, dachte ich, mache ich heute mal eine Ausnahme. In der Gaststätte traf mich dann der Schlag. Ich hatte nicht mehr auf dem Schirm, dass Rauchen in großen Teilen Norddeutschlands noch erlaubt ist. Nach den Tagen mit Sauerstoff pur war dies nun eine mehr als 180-Grad-Drehung.
Ich stand also da und alle starrten mich an: “Was will der da bloß mit dem orangefarbenen Rucksack hier in unserem Dorf?” Ein Zimmer war noch frei, €50 sollte es für die Nacht kosten. Ich schluckte und fragte nach einem Stück Wiese für mein Zelt. Hätte nie gedacht, dass ich mal €50 als teuer erachten würde, aber wenn man zwischendurch kostenlos oder für nur €8-10 genächtigt hat, war der Preis hier eine sichtliche Steigerung.
Der Wirt war so perplex, dass er verneinte. Ich verließ das Gasthaus und wanderte weiter in Richtung Sylt. Kurze Zeit später hielt ein Auto neben mir. Ein Mann stieg aus und sprach mich an. Ich erkannte ihn wieder. In der Gaststätte hatte ich ihn gesehen und er bot mir an, dass ich bei ihm im Garten übernachten könne. Ich bedankte mich, stieg zu ihm in den Wagen und wir fuhren ein Stück weiter. Volltreffer. Reed-gedecktes Haus, Grillhütte im Garten und ein grüner Rasen, so weich wie ein Teppich. Hier, auf diesem Rasen in Golfplatzqualität, durfte ich also mein Zelt aufschlagen. Die Heringe glitten nur so in den Boden.
Mein Gönner lud mich auf nicht nur ein Bier ein, und so saßen wir mit seiner Frau noch ein paar Stunden im Wintergarten und sprachen über Hobbies und Erlebtes. Den Höhepunkt erreichten wir dann, als Harald mir die Bilder des kleinen Hausbootes zeigte, das er für seine Frau und sich gebaut hat, als Überraschung für die Silberhochzeit. Genauer gesagt ist es zugelassen für 14 Personen, also alles andere als klein. Schön, Menschen mit ähnlich außergewöhnlichen Zielen und Gedanken zu treffen, genau solche Begegnungen hatte ich mir von meiner Reise erhofft.
Am Morgen gab es ein prachtvolles Frühstück, frische Brötchen, Eier, Wurst und Käse. Und was war das? Ein Care-Paket lag neben meinem Platz. Zwei belegte Brötchen und Nervennahrung für den Tag. Regina und Harald hatten an alles gedacht. Gastfreundschaft pur.
Wir verabschiedeten uns und ich ging auf die Zielgerade. Eigentlich wollte ich über den Hindenburgdamm laufen, bekam von der Bahn aber keine Genehmigung. Also entschied ich mich für eine Übernachtung auf Amrum, um dann am letzten Tag meiner Wanderung mit dem Schnellboot nach Hörnum überzusetzen. Jetzt konnte mich nichts mehr aufhalten, und wenn ich die letzten Meter hätte kriechen müssen.
Die letzten drei Kilometer horchte ich in mich hinein. Alles war tadellos. Auch meine ständigen Begleiter meldeten sich nicht mehr. Ich ging meine Reise im Kopf noch einmal durch. Was hatte ich alles erlebt, welche Gespräche habe ich geführt, und wen habe ich alles kennen gelernt? Fast jeder Tag hatte ein besonderes Highlight.
Wie in Trance nahm ich die letzte Düne, und da war sie dann endlich, die Sansibar mit meinem Feierabendbier. Auf der Holzterrasse genoß ich jeden Schluck. Selten hat ein Bier besser geschmeckt.
Welche Erkenntnisse habe ich nach meiner ersten großen Fernwanderung gewonnen? Abgesehen von den ständigen Begleitern und dem Blasenpflaster-Monopol der Apotheken, blieben die Begegnungen mit fremden Menschen am meisten in Erinnerung, waren das tatsächliche Highlight. Nettigkeiten, gute Gespräche und interessante Menschen haben meine Reise positiv geprägt—und mich auch. Auf der nächsten Reise werde ich meine täglichen Touren etwas weniger strikt planen, mich noch mehr auf die Strecke, als auf das Ziel konzentrieren. Denn wie man so schön sagt: Der Weg ist das Ziel. Und manchmal muss man einfach drauflos laufen.
Dieser Artikel erschien zuerst im Overland Journal, Gear Guide 2021.